Silvia Mathis, 2014

Indien – Ein Land der Gegensätze

Indienreise 28.07.2014 – 18.08.2014

Acht Jahre liegen zwischen meiner ersten und meiner zweiten Indienreise nach Kerala. 2006 wusste ich noch nicht, was mich erwarten würde. Dementsprechend waren die ersten Tage damals auch ein richtiger Kulturschock, ist doch dieses Land nicht etwa vergleichbar mit einem Italien Urlaub. Was mich wohl dieses Mal erwarten würde? Gespannt war ich, was der Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre, außer steigenden Materialpreisen für den Häuserbau, dem Land sonst noch so alles gebracht hatte. Von den Straßen war ich auf jeden Fall positiv überrascht. Waren 2006 noch viele Straßen in abgelegenen Gebieten kaum befahrbar, sind die meisten heute asphaltiert und gut befahrbar, was aber nicht heißt, dass ich mich dort hinter das Steuer eines Fahrzeuges sitzen würde. Der Straßenverkehr ist nämlich ein richtiges Abenteuer, was nicht allein auf den Linksverkehr zurückzuführen ist! Schon allein beim Mitfahren habe ich das eine oder andere Mal ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. Passiert ist Gottseidank nichts, wofür das ständige Hupen der Autos sicher mitverantwortlich ist. In Indien wird nämlich, ich denke aus Sicherheitsgründen, vor Kurven, unübersichtlichen Stellen oder sonstigen Gefahren gehupt, was für mich doch am Anfang gewöhnungsbedürftig war. Eine solche „Gefahr“ dürften auch Fußgänger sein, die die Straße überqueren wollen, da den Indern Zebrastreifen, Handzeichen oder sonstige Gesten, die Straße überqueren zu wollen, fremd zu sein scheinen. Also bleibt einem nichts anderes übrig, als irgendwann, begleitet von einem Hupkonzert zahlreicher Verkehrsteilnehmer, einfach loszulaufen, in der Hoffnung, gesund auf der anderen Straßenseite anzukommen. Soweit zum Straßenverkehr in Indien.

In größeren Städten hat die westliche Kultur, die nun auch in Indien immer mehr Einzug nimmt, bereits ihre Spuren hinterlassen. Traditionelle Saris oder Tunikas weichen zunehmend der in unserer Kultur bekannten Kleidung, sprich Hose, T-Shirt oder Pullover. Anstatt indischer Kleidung tragen viele Schaufensterpuppen nun die uns bekannten Modemarken. Eigentlich schade, denn der Sari ist doch ein Markenzeichen Indiens.

So weit, so gut! Die Hauptbestandteile der Reise, die unter dem Motto „Dach überm Kopf 2014“ stand, waren natürlich die Häusereinweihungen samt einiger Grundsteinlegungen und der Besuch eines Waisenhauses, welches von Pfarrer Georg seit Jahren unterstützt wird.

Weitere 60 Häuser konnten mit Hilfe von Spenden u.a. aus Österreich und der Schweiz seit letztem Sommer erbaut werden. Dies bedeutet einerseits viel Arbeit für Pfarrer Georg, der jedes Haus persönlich einweiht und sich zudem entsprechend Zeit für die Familie nimmt und mit ihnen über ihre Situation und ihre Anliegen spricht. Dabei ist mir dieses Mal ganz besonders bewusst geworden, dass „Father Varghese“, so nennen sie nämlich Pfarrer Georg in Indien, auch Beichtvater für andere Anliegen ist. Eine Frau, zum Beispiel, sie ist jetzt im Besitz eines neuen Hauses, erzählt ihm unter Tränen, dass ihr Mann am 24. Dezember letzten Jahres nicht mehr vom Fischen heimgekommen ist. Ein anderer Mann ist beim Hausbau ums Leben gekommen und die Familie tat sich sichtlich schwer, sich bei der Häusereinweihung zu freuen, zu schwer wog noch immer der Verlust des Mannes, Vaters, Freundes.

Andererseits weiß Pfarrer Georg aber auch, dass durch sein unermüdliches Engagement, Spenden zu lukrieren, vielen Menschen eine Zukunft ermöglicht wird, die ohne sein Zutun nicht möglich wäre. Trotz des eher schlechten Wetters, wegen des noch immer anhaltenden Monsunregens, waren die Häusereinweihungen wieder ein besonderes Erlebnis, die Freude und Dankbarkeit der Menschen über dieses Geschenk unübersehbar. Da in Indien für Frauen noch immer das Gesetz der Mitgift bei der Heirat gilt, wird zum Beispiel ein „Dreimäderlhaus“, im Gegensatz zu uns, vielerorts in Indien als Belastung angesehen. Ein gespendetes Haus öffnet für diese Familien, im wahrsten Sinne des Wortes, Türen zu einer Zukunft, von denen nicht nur die zukünftige Frau, sondern die ganze Familie profitiert. Häuser werden daher sehr oft an kinderreiche Familien, oder auch an Witwen mit Kindern vergeben, um diesen Menschen wieder eine Zukunft zu ermöglichen.

Im Vergleich zu vor acht Jahren ist mir auch aufgefallen, dass die Häuser nun viel wohnlicher eingerichtet sind, einfache Küchen vorhanden sind oder Fenster mit Gittern verziert sind. Auch Fernseher oder Internet sind nun in vielen Häusern vorhanden. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn Verwandte, Freunde, Nachbarn beim Hausbau mithelfen, oder vielleicht sogar zusätzliche Mittel beigesteuert werden, sprich wenn zum Beispiel ein Familienmitglied im Ausland arbeitet, denn alles hat seinen „Preis“! Bei gestiegenen Materialkosten, Bauvorschriften für WC- und Duschanlagen im Haus oder ständig steigenden Arbeitslöhnen sind € 2.500,- für ein Haus schnell aufgebraucht. Da heißt es sorgsam mit dem erhaltenen Geld umzugehen. Somit können Gebiete, wie zum Beispiel Reisfelder, welche wir auch besuchen durften, wo aufgrund der extrem schlechten Bodenqualität eine Bodenpilotierung zuerst vonnöten wäre, bei der Häuserauswahl erst gar nicht berücksichtigt werden oder die Pilotierungskosten werden, in Ausnahmefällen, vom Verein direkt übernommen. Diese Entscheidungen werden von den verantwortlichen Vereinsmitgliedern in Indien nach eingehenden Überprüfungen vor Ort getroffen, was nicht immer einfach ist. Denn Fragen wie „Warum bekommen die ein Haus und wir nicht?“ sind nicht immer leicht zu beantworten. Pfarrer Georg weiß um diese Fragen, Bitten und Hoffnungen der nichtberücksichtigten Familien, und versucht daher mit seinem Einsatz uns alle zum Nachdenken zu bewegen und unser Herz zu öffnen, denn Teilen macht nicht ärmer, sondern reicher und erfüllt uns mit einer inneren Freude.

Beim diesjährigen Indienbesuch haben wir nicht nur fertige Häuser gesehen. Bei einer Grundsteinlegung dabei sein zu dürfen, bevor so ein Haus überhaupt gebaut werden kann, war eine neue Erfahrung für mich. Die Vorfreude auf das, was in den kommenden Monaten noch kommen sollte, war den Menschen gut anzumerken.

Indien ist bekanntlich ein Staat, der Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft und unterschiedlicher Religionen beheimatet. Pfarrer Georg und der Verein „Dach überm Kopf“ suchen sich aber nicht nur die hilfsbedürftigen Christen heraus, um sie zu beschenken, sondern machen zum Beispiel keine Unterschiede zwischen Christen, Hindus und Moslems. Bei den Häusereinweihungen konnte man die unterschiedlichen Einweihungs-Rituale sehr gut erkennen, die jede Religion hat, sei es im Gebet, Gesang oder die Gaben, die sie uns zum Dank anboten.

Der Besuch des Waisenhauses in Palliport, welches von Pfarrer Georg seit Jahren unterstützt wird, war ein weiterer Höhepunkt unserer Reise. Die leuchtenden Kinderaugen waren mir noch vom letzten Mal in bleibender Erinnerung. Die Mädchen sind jedes Mal stolz darauf, ihre selbst zusammengestellten Tänze aufzuführen und uns mit ihrem indischen Gesang zu begeistern. Dieses Mal hatten wir außerdem die Gelegenheit, ihre neuen Betten zu bewundern. Was für uns als Selbstverständlichkeit gilt, wurde für die meisten Waisenkinder erstmals Realität – ein eigenes Bett! Dank einer großzügigen Spende konnte dies verwirklicht werden. Man stelle sich vor, unsereins müsste während des Monsunregens auf dem nasskalten Boden schlafen! Die Heimleiterinnen haben uns erzählt, dass es immer noch ab und zu vorkommt, dass Mädchen aus ihren Betten fallen. Leider mussten wir uns dann auch schon wieder vom Waisenhaus verabschieden. Schade, ich wäre noch gerne länger geblieben, bin aber sehr dankbar, dass ich das Waisenhaus wieder besuchen durfte.

Nach drei Wochen hieß es wieder Abschied nehmen von Indien. Inzwischen hatte sich auch mein Magen an die indischen Gewürze und an das scharfe Essen gewöhnt. Auch sonst würde man sich langsam den indischen Lebensgewohnheiten anpassen. Auf jeden Fall würde ich dieses Land, das voller Gegensätze ist, gerne wieder besuchen. Wie schon beim letzten Mal musste ich immer wieder feststellen, dass Dinge, die für uns oft selbstverständlich sind, andernorts oder für andere Menschen puren Luxus bedeuten. Diese Erkenntnisse helfen mir im Alltag, Situationen in einem anderen Licht zu sehen und die Augen zu öffnen, für die Not der Anderen.

Zum Abschluss gilt mein ganz besonderer Dank Pfarrer Georg und seinen Brüdern, die uns während unseres Aufenthaltes, wann immer möglich, begleiteten und uns auf diese Weise viele Facetten Indiens näherbrachten. Was der Verein „Dach überm Kopf“ alles ehrenamtlich leistet, sei es hier im Ländle oder vor Ort in Indien, um mittellosen Menschen zu helfen, verdient großen Respekt und Anerkennung.